Über Menschen | Juli Zeh

 


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Dora flieht mit ihrer kleinen Hündin aus Berlin raus nach Bracken, in der brandenburgischen Provinz. Die Stadt wurde ihr zu eng, genauso wie die gemeinsame Wohnung, die sie mit ihrem Freund Robert teilt. Robert, der sich immer mehr in seinen Klimaaktivismus verrennt und der jetzt zum Corona-Experten wird. In Doras neuem zu Hause gibt es noch keine Möbel, dafür aber einen riesigen verwilderten Garten. Und eine Mauer, hinter der ihr neuer Nachbar Gote wohnt. Der hat einen kahlrasierten Kopf, eine riesige Deutschlandflagge am Haus und singt nachts das Horst-Wessels-Lied. Während Dora noch mit ihren eigenen Problemen beschäftigt ist, wird sie mit Menschen konfrontiert, die in kein Raster fallen, die Klischees entsprechen und doch auf ihre Art herzlich sind und die Dora, ihre Moral und ihre Vorstellungen herausfordern. 

Es gibt diese Bücher, die will man einfach nur weginhalieren und gleichzeitig will man nicht, dass sie enden. So ein Buch ist Juli Zehs neuer Roman “Über Menschen”. Von der ersten Seite an wurde ich hineingezogen in diese Geschichte, die aktueller nicht sein könnte und die mich komplett begeistert hat. 

Dora fand ich als Figur sehr spannend, weil ich gefühlt von Anfang an in ihren Kopf blicken konnte. Juli Zeh bleibt mit Doras Gedanken meist in Doras kompletter Gegenwart, über alles andere erfährt man relativ wenig. Die linksliberale Dora, die für eine nachhaltige Werbeagentur arbeitet, erlebt mit ihrem Umzug ins brandenburgische Nirgendwo eine Art Kulturschock. Die Menschen in Bracken entsprechen auf den ersten Blick dem Klischee von Neonazis und AfD-Wählern, welches man eben so hat. Dennoch erlebt Dora Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Dies bringt sie in eine innere Zwickmühle. Können Nazis nett sein? Darf man mit AfD-Wählern zusammen grillen? Doras innere Zerrissenheit wird sehr deutlich beschrieben. 

“Die Tragik unserer Epoche, pflegt Jojo zu sagen, besteht darin, dass die Menschen ihre persönliche Unzufriedenheit mit einem politischen Problem verwechseln.”

Seite 173

“Über Menschen” erzählt nicht nur von dem, was trennt und tiefe Gräben in der Gesellschaft schafft, sondern auch von dem, was Menschen verbindet. So überwinden Dora und Gote im Verlauf der Geschichte Mauern. Die, die ihre Flurstücke voneinander trennt, vielmehr aber noch die im Kopf. Dora ist nicht nur die Frau aus der Stadt, die sich für was besseres hält. Gote ist nicht nur der Dorf-Nazi. Während Dora die Brackener*innen langsam besser kennenlernt, erhält sie auch Einblicke in ihr Leben. Sie versteht, was dazu führt, dass Menschen sich “von denen da oben in Berlin” ignoriert fühlen und wieso sie sich von denen, die vorgeben eine Alternative für Deutschland darzustellen, verstanden fühlen. 

“Irgendwie, denkt Dora, hat Deutschland die AfD beim Universum bestellt und bekommen.”

Seite 218

Dieses Buch ist kein Plädoyer und keine Rechtfertigung für Neonazis, rechtsradikale Übergriffe und Rassismus. Es entschuldigt dies auch nicht. Aber die Geschichte macht deutlich, dass es mehr gibt als schwarz und weiß oder braunblau und grünrot. Es gibt genügend Farben dazwischen, die zeigen, dass man andere Menschen annehmen kann und trotzdem nicht alles an ihnen gut, aber eben auch nicht alles an ihnen schlecht finden muss. Und somit ist “Über Menschen” nicht nur eine Geschichte von einer Frau, die aufs Dorf zog, sondern vom Mensch sein und von Menschlichkeit. 

Mit “Über Menschen” ist Juli Zeh eine grandiose Geschichte gelungen. Von mir gibt es eine ganz klare und große Leseempfehlung. 

Über Menschen | Juli Zeh |  Luchterhand Literaturverlag | 2021 | Hardcover | 416 Seiten | ISBN:  978-3630876672 | Preis: 22 Euro

*kostenloses Rezensionsexemplar