Es war einmal Aleppo | Jennifer Benkau

Es war einmal Aleppo_ Jennifer Benkau

Als Toni im Sommer 2015 mit ihrer Familie aus dem Urlaub kommt, hat sich ihre Nachbarschaft verändert. Denn direkt gegenüber wurde aus dem leerstehenden Tennisheim eine Unterkunft für mehrere hundert Flüchtlinge. Während ihre "besorgte" Familie auf die Barrikaden geht, hilft Tonis beste Freundin Fee ehrenamtlich im Camp aus. Als Toni sie ins Camp begleitet, lernt sie Shirvan, einen jungen Syrer kennen. Die beiden fangen an miteinander zu reden und langsam verliert Toni ihre Angst und ihre Vorurteile. Doch gleichzeitig spitzt sich die Situation außerhalb des Camps zu...

Die Bilder des Sommers 2015 werde ich nie mehr vergessen. Menschen die in seeuntüchtigen Booten versuchen über das Meer nach Europa zu kommen. Menschen, die mit kaputten Schuhen und einer Plastiktasche mit ihrer gesamten Habe tausende Kilometer zu Fuß gehen. Menschen, die an Bahnhöfen und Grenzübergängen wie Tiere zusammengepfercht werden. Menschen, die zu Fuß über die Autobahn gehen.
Auch nie mehr vergessen werde ich, dass in diesem Sommer Hass und Fremdenfeindlichkeit auf einmal salonfähig geworden sind. Dass Flüchtlingsunterkünfte brennen. Dass Menschen bedroht und eingeschüchtert werden, weil sie keinen deutschen Stammbaum haben. Dass Lügen und rechte Hetze zu geglaubten Wahrheiten werden.

Und genau diese Stimmung fängt Jennifer Benkau in ihrem Roman "Es war einmal Aleppo" unheimlich gut ein. Sie vermittelt ein sehr rundes Bild davon, wie die Stimmung in jenem Sommer hier war. Ich denke dass ihr dies auch gelungen wäre, wenn ich nicht eigene Erinnerungen an diese Zeit hätte. Da sich das Buch an junge Leser ab 12 Jahren richtet, finde ich es gut und wichtig, dass die Autorin die Situation so lebensecht schildert. Zudem trägt es natürlich auch zur Authentizität der Geschichte bei.

Authentisch und lebensecht sind auch die Figuren der Geschichte. Besonders Toni, die Protagonistin, ist für diese Geschichte eine wirklich tolle Figur. Ihre anfängliche Skepsis gegenüber den Flüchtlingen ist nachvollziehbar, es ist jedoch schön ihre Entwicklung zu beobachten und zu sehen, wie sie ihre Ängste und Vorurteile nach und nach verliert.

"Noch nie habe ich jemanden getroffen, der ernsthaft Angst haben muss, sein Kind könne den Winter nicht überleben, und gleichzeitig Adele mitsingen kann. Mir so nah. Mir so unglaublich fern. Es fühlt sich an, als wären Welten miteinander kollidiert." (Seite 131)

Doch auch Shirvan ist eine kluge und sympathische Figur. Durch seine ruhige und geduldige Art gelingt es ihm, Toni aus der Reserve zu locken. Zudem scheint er immer zur richtigen Situation das Richtige zu sagen, ohne dabei altklug oder künstlich zu wirken.

"Vierhundert Menschen mehr in deiner Nähe bedeuten vermutlich zwei oder drei gefährliche Menschen mehr in deiner Nähe. Aber vergiss nicht: Es bedeutet auch dreihundertsiebenundneunzig gute mehr." (Seite 153)

Doch so offen Shirvan von allem erzählt, so bedeckt hält er sich, wenn es um ihn selbst und um seine Geschichte geht. Zu schlimm ist das erlebte, zu tief sitzen die Verletzungen. Und so erfährt man nur lückenhaft Shirvans Geschichte und hat dennoch am Ende ein gutes Bild von ihm.

Jennifer Bekau _ Es war einmal Aleppo _ Rezension

Tonis Familie ist gegen das Flüchtlingscamp in direkter Nachbarschaft. Ihr Vater sieht den Wert seines Hauses sinken und generell können diese Leute ja ruhig kommen, doch nur bitte nicht vor seine Haustür. Ihre Mutter macht sich Sorgen um die Sicherheit ihrer Tochter, man wisse ja wie all die jungen Männer seien, ist aber auch zugänglicher als ihr Vater. Und ihr Bruder Alex lässt sich von der Stimmungsmache in den sozialen Netzwerken aufstacheln und schließt sich der Hetze an. Dadurch dass Tonis Familie gegen die Flüchtlinge ist, bekommt man auch Einblicke in die Sichtweise der Flüchtlingsgegner. Dies birgt nicht nur Konfliktpotential, sondern macht die Geschichte rund, denn ähnliche Gespräche und Diskussionen gab und gibt es sicher in vielen Familien.

Sehr schnell wird deutlich, dass sich Jennifer Benkau mit der Thematik sehr genau beschäftigt hat. Geschickt lässt sie sehr viel Hintergrundwissen über den Krieg, das Leben in Syrien, den Islam und die Flucht aber auch den Kampf mit den völlig überforderten deutschen Behörden in die Gespräche zwischen Toni und Shirvan einfließen. Ich fand dies sehr lehrreich und informativ.

Mich hat "Es war einmal Aleppo" sehr berührt und die Geschichte ist mir nahe gegangen. Durch die angenehme Schreibweise der Autorin habe ich das Buch an einem Tag durchgelesen und bin auch jetzt, ein paar Tage später, noch ganz im Bann der Geschichte. Beim Lesen und auch beim Schreiben dieser Rezension hatte ich mehrmals mit den Tränen zu kämpfen, denn Jennifer Benkau hat den Krieg, all das Leid, aber auch ganz viel Hoffnung zwischen den Buchdeckeln eingefangen. Sie schreibt viele kluge und wichtige Sätze, die ich am liebsten alle hier zitiert hätte. Das würde aber den Rahmen sprengen, deswegen lest lieber dieses Buch. Lest es!

"Sicher wird der Krieg irgendwann ein Ende finden, sagte er heute. Aber von Aleppo, der Stadt im Schmelztiegel aller befeindeten Parteien, wird nichts mehr übrig sein außer Gräbern, grau und endlos, so weit das Auge reicht." (Seite 488)

Es war einmal Aleppo | Jennifer Benkau | ink rebels | 2016 | Taschenbuch | 510 Seiten | ISBN: 978-3958692770 | Preis: 14,90€

Auf dieses Buch wurde ich durch Monerls lesenswerte Rezension aufmerksam.